Berlin – eine Sommererfahrung

Juni 2010. Nachmittag. Feierabend. Sonnenschein, 25°C.

Du sitzt auf einer Wiese am Fluss, mitten in der großen Stadt. Überall um Dich herum sitzen und liegen Menschen, manche auf Decken, andere auf dem blanken Rasen, teils einzeln, teils in Grüppchen.
Sie trinken Bier, Wasser oder Bionade oder essen mitgebrachtes Obst, Brote oder Muffins.

Du sitzt da und schaust in die Ferne, auf Deine Finger oder auf die, in der leichten, angenehmen Brise wehenden Grashalme um Dich herum und schnappst von überall her Wortfetzen auf. Deutsch, englisch, spanisch, wasauchimmer, Du verstehst nichts davon laut genug, um zu wissen, worum es sich in den Gesprächen dreht.

Schaust Du einmal direkt in die Richtung, aus der Du gerade verstärkt Stimmen vernimmst, erkennst Du in etwa, ob die sich (und auch Dich) unterhaltenden Menschen gerade relaxed und amüsiert oder eher angespannt und aufgeregt wirken. Du beobachtest die Szenen gerade lange genug, um Dir ein Bild davon gemacht zu haben, dann schaust Du wieder weg.

Ohnehin hat soeben das schallende Gelächter knapp 15 Meter links von Dir Deine Aufmerksamkeit auf sich gezogen, und so schaust Du nun in diese Richtung, verstehst außer dem Lachen und der auf großes Vergnügen hinweisenden Körpersprache der Beteiligten rein gar nichts, hast daher nicht den Hauch einer Ahnung, was da gerade so lustig sein mag, musst aber doch ein wenig schmunzeln. Das erscheint Dir instinktiv ein wenig bescheuert zu sein, und Du wendest Dich schnell wieder Deinen Fingern oder den Grashalmen zu.

Nur zwei Schritte hinter Dir hackt ein Eichelhäher wie geisteskrank auf einen auf der Wiese liegenden, halb verotteten Apfelgriebsch ein, ein Anblick, der Dich einen Moment lang total fesselt. Er hackt und hackt und pickt und rupft und hat nach etwa 2 Minuten beinahe mehr Moderapfel im Schnabel, als er wegzutransportieren fähig zu sein scheint. Dennoch fliegt er plötzlich davon, voll beladen, und Du schaust ihm nach.
Kurz darauf nimmst Du das Brummen eines Ausflugsdampfers wahr, dessen Dieselwolke schon seit einigen Minuten träge in der Luft hängt. Du schaust zum Wasser, entdeckst das weiß-blaue Stahl-Ungetüm und wirfst einen Blick auf die zahlreichen, auf dem Oberdeck zusammengepferchten Passagiere. Du erwartest fast, dass wenigstens einige von ihnen freundlich herüberwinken, doch sie wirken alle eher wie Wachsfiguren. Wie sehr hitzebeständige allerdings.

Auf der Wiese stolpert ein Flaschensammler über einen Grashügel oder seine eigenen Füße, jedenfalls lässt das damit einhergehende laute Klirren alle Anwesenden aufschrecken. Auch das Paar, das unweit von Dir bis eben in einer aberwitzigen Stellung ineinander verkeilt am Boden lag. Nach dem kurzen Schreck finden sie flugs eine neue, nicht weniger seltsame Position, und auch alle anderen machen dort weiter, wo sie vor dem Flaschensammlerklirren aufgehört hatten.

Inzwischen wird der Apfel-Abfall von drei Spatzen bearbeitet. Es sieht nicht nach Streit aus, jeder lässt dem anderen seinen Platz, ganz und gar freundschaftlich machen sie sich gemeinsam über das faulende Obst her. Ein paar Meter weiter watschelt ein Erpel (s)einer Ente hinterher. Scheinbar ziellos flanieren sie über die Wiese, und die vielen Menschen rundherum scheinen sie nicht im geringsten zu irritieren. Eher ist es umgekehrt.
In der Ferne hörst Du jemanden Saxophon spielen, hältst nach ihm Ausschau, kannst ihn aber nicht entdecken. Seine Musik wird abrupt verdrängt vom weiß-der-Himmel-wievielten S-, Regional- oder Fernbahnzug, der sich hundert Meter hinter Dir über die Bahntrasse zentimetert.
Eine Taube landet knapp neben Deinem Bein auf der Wiese, guckt komisch und rennt kopfnickend davon. Du schaust Dich um, siehst einige neue Menschengrüppchen und Einzelpersonen, aber auch viele von vorhin sind immer noch da.

Irgendwann schaust Du zu Boden.
Du entdeckst in der Rasenkuhle vor Dir 7 Zigarettenstummel, die dort bei Deiner Ankunft noch nicht lagen. Daneben liegen zwei leere Bierflaschen, eine dritte steht halbvoll neben Dir. Du kramst nach Deinem Handy, um auf die Uhr zu sehen. Seit Deiner Ankunft sind 2 1/2 Stunden verstrichen, einfach so, wie im Flug.
Du warst 2 1/2 Stunden lang kein bisschen mit Dir selbst beschäftigt. Alles um Dich herum hast Du wahrgenommen, vieles davon aufmerksam, manches nur zu einem Teil, Dich selbst, Deine eigene Wirkung auf andere aber überhaupt nicht.
Du stellst fest: das war angenehm!

Dir wird bewusst, dass auch Du in den vergangenen 2 1/2 Stunden beobachtet worden sein könntest. Von einem Eichelhäher, von Spatzen, einer Taube und Enten. Aber auch Menschen in Form von Dampferpassagieren, einem Flaschensammler, Passanten und Wiesensitzern. Und sie alle, wahrscheinlich mit Ausnahme der Tiere, könnten sich überlegt haben, ihre Beobachtungen dieses Tages niederzuschreiben.

So wie Du.

Du wirst es niemals irgendwo entdecken, Du wirst nirgendwo eine Beschreibung Deiner in diesen Momenten eventuell seltsam abwesend und verloren wirkenden, in die Gegend schauenden, vor sich hinträumenden Gestalt nachlesen können.
Das ist gut.
Das war ein hervorragender Nachmittag.

2 Kommentare

  1. Und ich finde das war mal wieder hervorragend geschrieben. DANKE!!! Denn genau so is es ja. Sitzt nicht jeder gerne einfach mal rum, ob auf einer Wiese oder in der Eisdiele oder weiß der Geier wo noch und beobachtet die Umgebung? Tja, aber kaum einer kann es so treffend beschreiben. :jaa:

  2. Pingback: wkwf

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